Das Thema Dehnen ist ein sehr vielschichtiges. Als Einstieg sollte man zunächst einmal zum 8. Menüpunkt „Wirkungen von Dehnen“ wechseln, bei dem ein kurzer Überblick gegeben wird.
Hier auf dieser Seite werden – wie die Überschrift verrät – vor allem zwei Wirkungen in den Blick genommen.
Wer sich über die verschiedenen Methoden des Dehnungstrainings informieren will, kann beim 3. Menüpunkt „Beispieldateien & Aufsätze“ die PDF-Datei „Die 5 Dehnungsmethoden“ öffnen.
Will man sich tiefer in das Thema einarbeiten, wird man beim 7. Menüpunkt „Habilitation“ fündig (Z. B. Titin, Immobilisation von Tiermuskeln).
Unter dem 6. Menüpunkt werden Empfehlungen für die Praxis des Dehnens gegeben.
Übungen und Übungsprogramme findet man wiederum beim 3. Menüpunkt „Beispieldateien & Aufsätze“, z. B. ein Aufwärmprogramm für das Tennis und ein Dehnprogramm für eine Laufdisziplin.
Auf dieser Seite befinden sich einige PDF-Dateien mit Aufsätzen zum Dehnen, weitere Aufsätze unter dem Menüpunkt "Uni" / "Publikationen".
Einen guten Überblick über Theorie und Praxis des Dehnens (mit Unterrichtsbeispielen für die Schule) bietet das Buch („Klappentext“).
1) Dehnen: Nicht immer, aber wieder öfter!
Bei der Frage, ob man sich dehnen soll (und wann, und wie intensiv und mit welcher Methode), gibt es eine große Verunsicherung, da einige Wirkungen, die man dem Dehnen früher zuschrieb, später in Frage gestellt wurden wie z. B. die Verletzungsprophylaxe.
In entsprechenden Studien (Herbert & Gabriel, 2002) wurden aber vor allem Verletzungen des passiven Bewegungsapparates untersucht (z. B. Ermüdungsbrüche), bei denen mit einer Reduzierung von 5% dann nur ein kleiner Effekt nachgewiesen wurde. Dies führt dann zu dem vielzitierten Satz, dass man 23 Jahre dehnen muss, um eine Verletzung zu vermeiden (S. 5).
Fokussiert man auf die Vorbeugung von Muskel- und Sehnenverletzungen, so zeigt sich ein größerer Effekt, nämlich dass man 25-50% dieser Verletzungen mit einem Dehnen beim Aufwärmen verhindern kann. Diesen Zahlen zufolge kann man durch Dehnen eine Muskelzerrung in viereinhalb bis neun Jahren vermeiden.
(Klee, A. (2013): Update Dehnen. Sportunterricht 62, 5: 130-134., "5-9 Jahre": zum ersten Mal veröffentlicht in: Klee, A. (2011): Dehnen beim Tennis: Sinnvoll oder Mythos. In: TennisSport. Heft 5, S. 5-11, S.8, am ausführlichsten in Klee, A. / Wiemann, K. (2012): Dehnen - Training der Beweglichkeit. Schriftenreihe Praxisideen, S. 59-61)
Außerdem gibt es Untersuchungen, die nachgewiesen haben, dass Dehnen beim Aufwärmen kontraproduktiv sein kann, da es – wenn es sehr intensiv, umfangreich und statisch ausgeführt wird - die Maximal- und Schnellkraft negativ beeinflusst. Da zuletzt festgestellt wurde, dass sich ein durchdachtes Dehnen (nicht statisch, sondern dynamisch, nicht zu intensiv) nicht negativ auf die Leistung auswirkt, sollte man wieder mit größerer Sicherheit das Dehnen sowohl beim Aufwärmen als auch beim regelmäßigen, langfristigen Training einsetzen.
Zur schnellen Orientierung ist der Vortrag geeignet:
- Leistung: Folien 30-34, 44
- Verletzungsprophylaxe: Folien 36-42
Wer sich intensiver mit dem Thema beschäftigen will:
Die Zusammenfassung
Die Metaanalysen und Übersichtsarbeiten zu diesem Thema kommen zu dem Schluss, dass die gesichteten empirischen Untersuchungen widersprüchliche Ergebnisse liefern und dass man dem Dehnungstraining keine bzw. nur eine geringe Wirkung bei der Verletzungsprophylaxe beimessen kann.
Die eigene Bewertung dieser Primärstudien zeigt, dass bei der Beurteilung dieser Frage ausschlaggebend ist, welche Aussagefähigkeit man den einzelnen empirischen Untersuchungen zubilligt. Ein entscheidender Filter ist, von welchen Verletzungen man glaubt, dass diese durch Dehnungstraining vermieden werden können.
Hält man dies vor allem für akute Sehnenverletzungen und für Muskelzerrungen und -faserrisse für möglich und weniger für andere akute Muskelverletzungen (Muskelprellungen) und weniger für akute Verletzungen und Überlastungsschäden von anderen Strukturen (Bänder, Schleimbeutel, Gelenke, Knochen), verlieren eine ganze Reihe von Untersuchungen ihre Bedeutung, da in diesen die verschiedenen Verletzungsarten undifferenziert erhoben und/oder ausgewertet wurden.
Somit ist es zu früh zu resümieren, Dehnen hätte keine Bedeutung bei der Vorbeugung von Verletzungen, es sei denn, man betont bei dieser Aussage ausdrücklich, dass mit Verletzungen alle Verletzungen aller Strukturen gemeint sind und nicht ausschließlich Muskelzerrungen. Zwei neuere Untersuchungen lassen eher den Schluss zu, dass Zerrungen durch Dehnungstraining reduziert werden können.
In vielen Studien wurde die Wirkung des Dehnungstrainings auf die Vorbeugung aller Verletzungen untersucht, also auch derjenigen, die durch Überlastungen (Spalte B) und durch Sportunfälle (Spalte C) verursacht werden.
Außerdem wurden nicht nur Muskelzerrungen (Zeile 1), sondern alle Verletzungen gezählt, also z. B. auch Ermüdungsbrüche (Zeile 2).
Betrachtet man nur Muskelverletzungen, so hat Dehnungstraining eine vorbeugende Wirkung (grüne Kreise), in den anderen Feldern (rote Kreise) nicht. Da die meisten Untersuchungen alle Bereiche berücksichtigten, kamen sie zu einem negativen Fazit, die Untersuchungen, die nur auf die grünen Bereiche schauten, konnten eine Wirkung feststellen.
Zusammenfassung in Englisch
ANDREAS KLEE: About the effect of stretching exercises on injury prevention – an analysis of the available empirical studies under particular consideration of the types of injury
The meta-analyses and review papers dealing with the effect of stretching exercises arrive at the conclusion that the available empirical studies provide contradictory results and that stretching exercises have no or only little effect on injury prevention.
The author’s own evaluaton of these primary studies shows that when judging this question it is crucial which meaningfulness is attributed to the individual empirical studies. One’s own belief as to which injuries can be prevented through stretching exercises is an important filter.
If one thinks that acute tendon injuries and muscle strains and fiber tears can be prevented through stretching exercises and doubts that this is possible with other acute muscle injuries (muscle contusions) and overuse injuries to other structures (ligaments, bursae, joints, bones), quite a number of studies lose their significance because the collection or evaluation of the injuries was done without making a difference between the kinds of injuries. It is therefore too early to conclude that stretching is not important for the prevention of injuries.
This statement is only justified if it is expressly emphasized that when talking of injuries all injuries are meant and not only muscle strains. Two recent studies rather allow the conclusion that muscle strains can bereduced through stretching exercises.
Zusammenfassung in Französisch
ANDREAS KLEE: Sur les effets des exercices d’étirement en tant que prophylaxie de blessures – une analyse des études empiriques avec une attention particulière aux types de blessures
Les méta-analyses et les travaux synthétiques par rapport à ce sujet arrivent à la conclusion que les études empiriques consultées fournissent des résultats contradictoires et que les exercices d’étirement ne doivent avoir aucun ou qu’un faible effet pour la prophylaxie de blessures.
Notre propre évaluation de ces études primaires montre que par rapport à cette question, les points de vue dépendent ducaractère probant qu’on accorde aux différentes études empiriques. Un filtre décisif est introduit selon les blessures dont on croit qu’elles peuvent être évitées grâce aux exercices d’étirement.
A partir du moment où on estime que c’est notamment le cas pour des blessures aiguës aux tendons et pour des élongations musculaires, et moins pour d’autres blessures musculaires aiguës (contusions) ainsi que pour des blessures aiguës ou des effets de surcharge concernant d’autres structures (ligaments, articulations, os), il s’avère qu’une grande partie des études n’a pas de signification. Elles n’ont en effet établi aucune différenciation entre les différents types de blessures.
Ainsi, il est trop tôt pour conclure que les exercices d’étirement n’auraient pas de répercussions pour la prophylaxie des blessures – sauf si on ajoute à cette affirmation qu’on entend bien par blessures toutes les blessures de toutes les structures, et pas seulement les blessures musculaires. Deux nouvelles etudes conduisent plutôt vers le constat que les élongations peuvent être réduites grâce aux exercices d’étirement.
Vor kurzem habe ich dieses Ergebnis in einer aktuellen internationalen Publikation bestätigt gefunden:
Small K, Mc Naughton L, Matthews M.
Res Sports Med. 2008 Jul-Sep;16(3):213-31.
Department of Sport, Health and Exercise Science, University of Hull, Hull, England.
A systematic review of the literature was undertaken to assess the efficacy of static stretching as part of the warm-up for the prevention of exercise-related injuries. Computer-aided literature search for articles post-1990 and pre-January 2008 related to static stretching and injury prevention using MEDLINE, SPORT Discus, PubMed, and ScienceDirect databases. All relevant randomised clinical trials (RCTs) and controlled clinical trials (CCTs) satisfying inclusion/exclusion criteria were evaluated by methodological assessment to score the studies using accredited criteria.
Seven out of 364 studies met the inclusion/exclusion criteria. All four RCTs concluded that static stretching was ineffective in reducing the incidence of exercise-related injury, and only one of the three CCTs concluded that static stretching did reduce the incidence of exercise-related injury. Three out of the seven studies noted significant reductions in musculotendinous and ligament injuries following a static stretching protocol despite nonsignificant reductions in the all-injury risk. All RCTs scored over 50 points (maximum possible score = 100), whereas all CCTs scored under 45 points.
There is moderate to strong evidence that routine application of static stretching does not reduce overall injury rates. There is preliminary evidence, however, that static stretching may reduce musculotendinous injuries.
Auch diese Untersuchung kommt zu einem optimistischen Ergebnis:
Br J Sports Med. 2009 Jun 11.
A pragmatic randomised trial of stretching before and after physical activity to prevent injury and soreness.
Norwegian Knowledge Centre for the Health Services, Norway.
OBJECTIVE: To determine the effects of stretching before and after physical activity on risks of injury and soreness in a community population.
DESIGN: Internet-based pragmatic randomised trial conducted between January 2008 and January 2009.
PARTICIPANTS: 2,377 adults who regularly participated in physical activity.
INTERVENTIONS: Participants in the stretch group were asked to perform 30-second static stretches of 7 lower limb and trunk muscle groups before and after physical activity for 12 weeks. Participants in the control group were asked not to stretch. Main outcome measurements: Participants provided weekly on-line reports of outcomes over 12 weeks. Primary outcomes were any injury to the lower limb or back, and bothersome soreness of the legs, buttocks or back. Injury to muscles, ligaments and tendons was a secondary outcome.
RESULTS: Stretching did not produce clinically important or statistically significant reductions in all-injury risk (HR = 0.97, 95% CI 0.84 to 1.13), but did reduce the risk of experiencing bothersome soreness (mean risk of bothersome soreness in a week was 24.6% in the stretch group and 32.3% in the control group; OR = 0.69, 95% CI 0.59 to 0.82). Stretching reduced the risk of injuries to muscles, ligaments and tendons (incidence rate of 0.66 injuries per person-year in the stretch group and 0.88 injuries per person-year in the control group; HR = 0.75, 95% CI 0.59 to 0.96).
CONCLUSION: Stretching before and after physical activity does not appreciably reduce all-injury risk, but probably reduces the risk of some injuries, and does reduce the risk of bothersome soreness.
"Thus one injury to muscle, ligament or tendon was prevented for every 20 people who stretched for 12 weeks." (p. 9)
Dieses Ergebnis hat deshalb ein hohes Gewicht, da einer der Autoren der Untersuchung, die oben angesprochen wird und die zum Ergebnis hatte, dass man 23 Jahre braucht, um eine Verletzung zu vermeiden (Herbert & Gabriel, 2002), Mitautor dieser Veröffentlichung ist. Diesen Zahlen zufolge kann man durch Dehnen eine Verletzung des Muskel-, Band- und Sehnenapparates in 4,6 Jahren vermeiden (Reduktion um 25%).
<=> “Thus, on average, about 100 people stretch for 12 weeks to prevent one injury …”. (Herbert & Gabriel, 2002, p. 5)
Eine weitere Übersichtsarbeit, die zu einem positiven Ergebnis kommt:
Scand J Med Sci Sports. 2010 Apr;20(2):169-81.
To stretch or not to stretch: the role of stretching in injury prevention and performance. Download PDF
McHugh MP, Cosgrave CH.
Stretching is commonly practiced before sports participation; however, effects on subsequent performance and injury prevention are not well understood. There is an abundance of literature demonstrating that a single bout of stretching acutely impairs muscle strength, with a lesser effect on power. The extent to which these effects are apparent when stretching is combined with other aspects of a pre-participation warm-up, such as practice drills and low intensity dynamic exercises, is not known.
With respect to the effect of pre-participation stretching on injury prevention a limited number of studies of varying quality have shown mixed results. A general consensus is that stretching in addition to warm-up does not affect the incidence of overuse injuries. There is evidence that pre-participation stretching reduces the incidence of muscle strains but there is clearly a need for further work. Future prospective randomized studies should use stretching interventions that are effective at decreasing passive resistance to stretch and assess effects on subsequent injury incidence in sports with a high prevalence of muscle strains.
Und noch eine Metaanalyse, die eine große Zahl von Primärstudien miteinbezogen hat, zeigt
1., dass Dehnen nicht immer die Leistung reduziert und
2., dass Muskelverletzungen vermieden werden können:
Behm DG, Blazevich AJ, Kay AD, McHugh M.
Appl Physiol Nutr Metab. 2016 Jan;41(1):1-11. doi: 10.1139/apnm-2015-0235. Epub 2015 Dec 8.
Recently, there has been a shift from static stretching (SS) or proprioceptive neuromuscular facilitation (PNF) stretching within a warm-up to a greater emphasis on dynamic stretching (DS). The objective of this review was to compare the effects of SS, DS, and PNF on performance, range of motion (ROM), and injury prevention.
The data indicated that SS- (-3.7%), DS- (+1.3%), and PNF- (-4.4%) induced performance changes were small to moderate with testing performed immediately after stretching, possibly because of reduced muscle activation after SS and PNF.
1) A dose-response relationship illustrated greater performance deficits with ≥60 s (-4.6%) than with <60 s (-1.1%) SS per muscle group. Conversely, SS demonstrated a moderate (2.2%) performance benefit at longer muscle lengths. Testing was performed on average 3-5 min after stretching, and most studies did not include poststretching dynamic activities; when these activities were included, no clear performance effect was observed.
DS produced small-to-moderate performance improvements when completed within minutes of physical activity.
2) SS and PNF stretching had no clear effect on all-cause or overuse injuries; no data are available for DS. All forms of training induced ROM improvements, typically lasting <30 min. Changes may result from acute reductions in muscle and tendon stiffness or from neural adaptations causing an improved stretch tolerance. Considering the small-to-moderate changes immediately after stretching and the study limitations, stretching within a warm-up that includes additional poststretching dynamic activity is recommended for reducing muscle injuries and increasing joint ROM with inconsequential effects on subsequent athletic performance.
Der Absatz auf S. 8, in dem die Ergebnisse zur Vermeidung von Muskelverletzungen durch Dehnen zusammengefasst werden, lautet:
Six studies specified the effects of stretching on the prevalence of acute muscle injuries. From these studies, it was possible to compute the relative risk of sustaining an acute muscle injury associated with stretching vs. not stretching (Supplementary Table S6). Taken together, these studies indicate a 54% risk reduction in acute muscle injuries associated with stretching.
Demzufolge können 54% aller Muskelverletzungen durch Dehnen vermieden werden, ein ähnlicher Wert wie bereits in meinen Veröffentlichungen.
Zu dieser Metaanalyse kann man sich Zusatzmaterial herunterladen, in dem die Ergebnisse in Tabellen sehr übersichtlich und informativ zusammengefasst werden. Das 6. Zusatzmaterial (apnm-2015-0235supplf.docx) enthält die Informationen zur Auswertung "Verletzungsprophylaxe".
Die zweite Tabelle (Table S6) zeigt die 6 Untersuchungen, die eine Reduzierung akuter Muskelverletzungen durch Dehnen nachgewiesen haben. In den Dehngruppen kam es bei 2196 Sportlern zu 107 Muskelverletzungen (4,87%), bei den Kontrollgruppen bei 2467 Sportlern zu 264 Muskelverletzungen (10,7%), also zu 54% mehr (100-4,87/10,7 * 100).
8.4.2020: Eigene Berechnungen auf Grundlage dieser Zahlen der sechs Studien kommen jedoch zu dem Ergebnis, dass die Reduzierung mit ca. 44% geringer ausfällt (Die Summe der Verletzungen bei der Kontrollgruppe ist mit 264 falsch berechnet worden und beträgt nur 214). Zudem ist das Verfahren der reinen Addition der Werte fraglich. Das bei Metaanalysen angemessene Verfahren ist ein Forest-Plot und eine gewichtete Mittelwertbildung, die hier eine Reduzierung von 33% ergibt.
Bei allen Übersichtsarbeiten und Metaanalysen stellt sich grundsätzlich die Frage, welche Primärstudien mit eingeschlossen werden und vor allem welche ausgeschlossen werden. Zur Prüfung der Qualität einer Primärstudie gibt es z. B. die Pedro-Skala. Dabei wird z. B. beurteilt, ob die Versuchspersonen zufällig der Behandlungsgruppe oder der Kontrollgruppe zugeordnet wurden („randomisiert“). Ein Ausschlusskriterium ist auch, wenn nicht nur gedehnt wurde, sondern mehrere Maßnahmen zur Reduzierung der Verletzungen parallel durchgeführt wurden ("multicomponent intervention“). Wenn man diese Kriterien allerdings sehr streng anwendet, verbleiben kaum noch Studien im Topf.
Zusammenfassung
Muskelsehnenverletzungen haben vor allem bei Schnellkraftsportarten einen hohen Anteil an allen Verletzungen. Sowohl vom Dehnen beim Aufwärmen als auch vom regelmäßigen Dehnen wird eine Reduzierung der Muskelsehnenverletzungen erwartet. Die Angabe über das Ausmaß der Reduzierung erfolgt entweder in Prozent oder über die Empfehlung, wie viele Jahre man dehnen muss, um eine Muskelsehnenverletzung zu vermeiden. Die Angaben weisen eine große Streuung auf (5 - 54%, 5 - 23 Jahre).
Im vorliegenden Beitrag wird erläutert, wie diese unterschiedlichen Zahlen zustande kommen und wie sie zu interpretieren sind. Dabei kommen dem unterschiedlichen Verletzungsrisiko bei verschiedenen sportlichen Aktivitäten und den Unterschieden beim Belastungsumfang (Stunden pro Jahr) eine besondere Bedeutung zu.
In den entsprechenden Metaanalysen der letzten Jahre wurden vor allem zwölf Primärstudien berücksichtigt. Dabei werden von den Metaanalysen jeweils unterschiedliche und unterschiedlich viele Primärstudien einbezogen. Vor allem vier Primärstudien sind für eine Berechnung des relativen Risikos geeignet. Diese Berechnung ergibt, dass ca. ein Drittel der Muskelsehnenverletzungen vermieden werden kann. Dieses Ergebnis wird durch fünf weitere Primärstudien gestützt. Es kann nicht geklärt werden, ob diese Reduzierung durch kurzfristige Aufwärmeffekte oder langfristige Anpassungen verursacht wird. Daher sollte dem Dehnungstraining in der Sportpraxis beim Aufwärmen (dynamisches Dehnen) und beim regelmäßigen Dehnen (alle Methoden) große Bedeutung beigemessen werden. Neben dem Dehnen gibt es weitere Maßnahmen, die das Verletzungsrisiko verringern können, so das exzentrische Krafttraining.
In zukünftigen Studien sollten der Belastungsumfang und die Verletzungsinzidenz in Verletzungen pro 1000 Stunden angegeben werden. Da diese Angaben in vielen Primärstudien fehlen, können die Ergebnisse kaum verglichen und übertragen werden. Darüber hinaus sollten zusätzliche Variablen wie z. B. Vorverletzungen erhoben werden und in eine multivariate Auswertung einfließen.
Klee Wydra 2023 auf englisch (unveröffentlicht)
Abstract
Musculotendinous injuries account for a high proportion of all injuries, especially in high-speed strength sports. Both warm-up and regular stretching are expected to reduce musculotendinous injuries. An indication of the extent of reduction is given either as a percentage or as a recommendation of how many years of stretching is needed to avoid musculotendinous injuries. The figures show a wide range (5 - 54%, 5 - 23 years).
This article explains how these different figures come about and how they should be interpreted. The different risk of injury in various sports activities and the variation in the volume of training (hours per year) are of particular importance.
Twelve primary studies were mainly considered in the corresponding meta-analyses of the last few years. The meta-analyses include different primary studies. Four primary studies in particular are suitable for calculating the relative risk. This calculation shows that about one third of the musculotendinous injuries can be avoided. This result is supported by five other primary studies. It is not clear whether this reduction is caused by short-term warm-up effects or long-term adaptations. As a result, great importance should be given to warm-up stretching in sports practice (dynamic stretching) and regular stretching (all methods: dynamic – static - and contract-relax stretching). In addition to stretching, there are other measures that can reduce the risk of injury, such as eccentric strength training.
In future studies, the volume of training and the incidence of injury should be expressed in terms of injuries per 1000 hours. Since these data are missing in many primary studies, the results can hardly be compared. Furthermore, additional variables such as previous injuries should be recorded and included in a multivariate analysis.
Fazit:
Auch von uns (Klee & Wiemann) wurde in den ersten Veröffentlichungen die Wirkung des Dehnens als Verletzungsprophylaxe in Frage gestellt, da die entsprechenden Untersuchungen keine oder nur eine sehr geringe Wirkung nachweisen konnten. Wie sich nun später zeigte, waren diese Veröffentlichungen nicht sehr aussagekräftig, da nicht gezielt auf Muskel- und Sehnenverletzungen geschaut wurde (meine Veröffentlichung von 2006 ist nach meinem Wissen die erste mit dieser differenzierenden Betrachtungsweise, der allerdings auch heute noch nicht jeder zustimmt).
Betrachtet man vor allem solche (wenigen) Untersuchungen, so zeigen diese eine eine größere Wirkung, d. h. dass man 25-50% dieser Verletzungen mit einem Dehnen beim Aufwärmen verhindern kann. Diesen Zahlen zufolge kann man durch Dehnen eine Muskelzerrung in fünf bis neun Jahren vermeiden.
Aber dies ist abhängig vom Verletzungsrisiko, das abhängt vom Trainingszustand, von der Belastung, vom Alter, von der Trainingshäufigkeit ... Diese Zahlen (5-9 Jahre) fallen auch deshalb relativ hoch aus, weil Muskel- Und Sehnenverletzungen nicht so oft auftreten (aber 5-9 Jahre ist deutlich weniger als 23 Jahre wie Herbert & Gabriel berechneten).
Die nach meinem Ermessen aussagekräftigste Primärstudie ist die von Cross und Worrell.
Cross und Worrell (1999) hatten die Verletzungen von 195 Footballspielern über zwei Spielzeiten verfolgt. In der zweiten Saison dehnten die Sportler im Gegensatz zur ersten Saison vor jedem Sprinttraining die hinteren und vorderen Oberschenkelmuskeln, die Adduktoren und die Wadenmuskulatur. Die Anzahl der Verletzungen unterschied sich in den beiden Spielzeiten nicht (Erste Saison: 155, zweite: 153), die Zahl der Muskel- und Sehnenzerrungen war mit 21 in der zweiten Saison hingegen signifikant geringer als in der ersten. Diesen Zahlen zufolge kann man durch Dehnen eine Verletzung des Muskel- Sehnenapparates in 8,86 Jahren vermeiden (Reduktion um 51,1%).
Abstract
OBJECTIVE: Musculotendinous strains are among the most prevalent injuries for which health care professionals provide treatment and rehabilitation interventions. Flexibility has been identified as one of the primary etiologic factors associated with musculotendinous strains, but limited research exists on the effect of a preventive stretching program on musculotendinous strains. Therefore, the purpose of our study was to compare the number of musculotendinous strains for the hamstrings, quadriceps, hip adductors, and gastrocnemius-soleus muscle groups before and after the incorporation of a static stretching program for each muscle group.
DESIGN AND SETTING: We analyzed the incidence of musculotendinous strains among the players of a Division III collegiate football team between 1994 and 1995. All variables were consistent between the 2 seasons except for the incorporation of a lower extremity stretching program in 1995.
SUBJECTS: One hundred and ninety-five Division III college football players.
MEASUREMENTS: We calculated the number of musculotendinous strains that required a minimum absence of 1 day from practices or games in 1994 and 1995.
RESULTS: A x(2) analysis revealed a significant reduction in the number of lower extremity musculotendinous strains in 1995 as opposed to 1994.
CONCLUSIONS: Our statistical analysis indicates an association between the incorporation of a static stretching program and a decreased incidence of musculotendinous strains in Division III college football players.
Die Bedeutung des Dehnens als Verletzungsprophylaxe wird auch in der folgenden Veröffentlichung betont:
Dadebo et al. hatten über Fragebogen ermittelt, wie die Spieler von 30 englischen Mannschaften der ersten drei Fußballligen dehnen und welche Muskelverletzungen, insbesondere Verletzungen der hinteren Oberschenkelmuskeln auftreten. Sie fokussierten demnach im Gegensatz zu den anderen Untersuchungen erstens auf eine Muskelgruppe, die besonders anfällig für Zerrungen ist, und zweitens auf eine Belastung, die besonders häufig zu Zerrungen führt (maximale Sprints). Die Autoren können in ihrer multifaktoriellen Auswertung die aufgetretenen 158 Verletzungen der hinteren Oberschenkelmuskeln zu einem erstaunlich hohem Prozentsatz von 79% durch die drei Faktoren „Haltezeit beim Dehnen“ (29%), „Verwendung eines Standard-Stretching-Protokolls“ (40%) und „angewendete Dehnmethode“ (10%) erklären, d.h. Spieler, die (1.) ein standardisiertes Dehnprogramm benutzten, (2.) die Dehnung 15-30 s hielten und (3.) statisches Dehnen oder eine PNF-Methode einsetzten, verletzten sich signifikant weniger.
Da bei allen Untersuchungen zur Wirkung des Kurzzeitdehnens durch die regelmäßige Wiederholung wie z. B. bei Cross und Worrell (1999) über eine Saison auch langfristige Effekte auftraten, können die Wirkungen des Kurz- und des Langzeitdehnens nicht getrennt werden (vgl. hierzu Klee, 2006, S. 30; Klee, 2007, Abb. 1), so dass es sich bei der Reduzierung der Muskelverletzungen auch um langfristige Effekte handeln könnte, die man aus möglichen Wachstumsprozessen ableiten könnte.
Bei einer zweiten Forschungsrichtung wird untersucht, ob eine überdurchschnittliche oder eine unterdurchschnittliche Beweglichkeit mit einer höheren Verletzungsrate zusammenhängt (Marschall & Ruckelshausen, 2004). Auch diese Untersuchungen er-bringen keine oder nur widersprüchliche Ergebnisse, was wiederum dazu führt, dass von einem Dehnen als Verletzungsprophylaxe abgeraten wird. Da aber auch in diesen Untersuchungen kaum zwischen den verschiedenen Verletzungsarten unterschieden wird und von den untersuchten Personen kein Dehnungstraining durchgeführt wurde, muss auch die Aussagefähigkeit dieser Untersuchungen relativiert werden (Klee, 2006, S. 31).
Eine Überblicksarbeit, die bei der Verletzungsprophylaxe ebenfalls zu einem negativen Ergebnis kommt:
Wiemeyer, J. (2002). Dehnen – eine sinnvolle Vorbereitungsmaßnahme. Spectrum, 14 (1), 53-80.
Aber auch hier wird nicht zwischen den Verletzungsarten unterschieden.
Eine weitere Übersichtsarbeit, die auch zu dem Ergebnis kommt, dass Dehnen keine Wirkung als Verletzungsprophylaxe hat, ist diejenige von:
Aber auch hier wird nicht zwischen den Verletzungsarten unterschieden.
Exzentrische Kontraktionen
Es gibt neben dem Dehnen andere Trainingsmaßnahmen, die das Verletzungsrisiko reduzieren können, wie das exzentrisches Krafttraining durch die Übung „Nordic hamstring excercise“ (Abb. 1-4). Diese Übung trainiert vor allem die hintere Oberschenkelmuskulatur (die Hamstrings), bei denen die meisten Muskelsehnenverletzungen im Sport auftreten und verringert deren Verletzungen um 51% (van Dyk et al. 2019). Aber Vorsicht, wenn man sie ausprobieren will, vorher gut informieren, gut aufwärmen und langsam steigern. Dass sowohl das Dehnen als auch das exzentrische Krafttraining Muskelsehnenverletzungen reduzieren können, ist nicht überraschend, denn es gibt deutliche Parallelen. So kommt es auch beim Dehnen im endgradigen Bereich zu Dehnungsreflexen und Kontraktionen. Diese können noch durch willkürliche Kontraktionen gesteigert werden.
So beschreiben Klee und Wiemann (2012, S. 120) ein Rückpralldehnen (oder Rebounddehnen), das aus einem schwingenden Dehnen mit beschleunigten Hin- und Herbewegungen besteht, die jeweils durch exzentrische Kontraktionen verursacht werden. Auch hier wieder vorher gut informieren, gut aufwärmen und langsam steigern vom gefühlvollen Federn über eine Schwunggymnastik bis hin zum ballistischen Dehnen (Klee und Wiemann, 2012, S. 118, Abb. 5). Nach einer Phase, in der man nicht federn sollte beim Dehnen, weil dies Verletzungen verursachen könnte, scheint nun das Gegenteil der Fall zu sein. Auch beim Faszientraining wird dynamisch gedehnt und ein exzentrisches Krafttraining empfohlen (z. B. das schwingende Schwert) mit der Begründung, dass dies ein Wachstum des Bindegewebes verursacht und Verletzungen verringert (Schleip und Bayer, 2014).
Abb. 1-4: Nordic hamstring excercise. Als Partnerübung, ist der Partner schwer und / oder kräftig, muss man eine zusätzliche Fixierung wählen durch eine Bank oder einen Gurt
2) Leistung: Die Wirkung des Dehnens auf die Maximal- und Schnellkraft
Wiemeyer wertete 2003 sieben Untersuchungen zur kurzfristigen Auswirkung des statischen Dehnens auf die Leistungsfähigkeit aus und resümiert, dass Dehnmaßnahmen zu Leistungseinbußen bei der Maximalkraft von bis zu 8% und bei Sprungtests von 2-5% und mehr führen können. Dabei werden drei mögliche Ursachen diskutiert:
- Biomechanische Ursachen: Dehnungstraining belastet durch die auftretenden Dehnungsspannungen die Sehnen und die Muskulatur, insbesondere die fibrillären Strukturen innerhalb der Muskelfaser.
- Neuromuskuläre Ursachen: Die Reduktion der Reflex-, bzw. Motoneuronenaktivität.
- Zentralnervöse Ursachen: Absinken des allgemeinen zentralnervösen Aktivierungs-niveaus (Wiemeyer, 2003).
Insbesondere diese Leistungseinbußen haben dazu geführt, dass in den letzten Jahren vom Dehnen abgeraten wird, was aber durch drei Anmerkungen relativiert werden muss:
-
„Dehnen verschlechtert nicht immer die Leistung. Behm und Chaouachi (2011) fanden 76 Studien, bei denen Dehnen zu einer Leistungseinbuße führt, aber auch 40 Studien ohne Leistungseinbuße, und 22 Studien mit einer Leistungsverbesserung durch Dehnen, vor allem, wenn dies dynamisch durchgeführt wird. Hillebrecht (2013) kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Die Maximal- und Schnellkraft wird nur in wenigen Untersuchungen beeinträchtigt, die Reaktivkraft (z. B. Drop Jumps) häufiger.“ (Klee, 2017, S. 236)
- In den Studien wurde z. T. sehr intensiv (20-60 Minuten) gedehnt, so intensiv wie es bei Aufwärmprogrammen eher nicht üblich ist.
- Zudem erfolgte direkt nach dem Dehnen dann z. B. der Sprungtest – ohne Pause und ohne die Muskeln zuvor durch entsprechende tonisierende Übungen (Hüpfen) wieder „auf Spannung zu bringen“.
Neuere Untersuchungen kommen aber zum Ergebnis, dass ein weniger intensives Dehnen keine Einbußen der Schnellkraft zur Folge hat, vor allem wenn es dynamisch durchgeführt wird und wenn im Anschluss tonisierende Übungen gemacht werden.
Dies zeigt auch diese Metaanalyse, die eine große Zahl von Primärstudien miteinbezogen hat, die bereits oben angesprochen wurde, s. auch dort das Abstract.
Behm DG, Blazevich AJ, Kay AD, McHugh M.
Folie 30 aus: »Update Dehnen – nicht immer, aber wieder öfter«. Vortrag anlässlich des Sportmed./Sportwissenschaftl. Seminars „Beweglichkeitstraining – wie, wann & warum?“ Samstag, 7. November 2015 an der Universität Koblenz-Landau.